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20.1.1 Eigenbewegung von Sternen

Als Eigenbewegung werden die Koordinatenänderungen pro Zeiteinheit bezeichnet, die durch eine räumliche Bewegung der Gestirne relativ zur Sonne verursacht werden. Diese Bewegung bewirkt eine Verlagerung der Projektion der Gestirne an die Himmelskugel.



Abb.: 1: Definition der Eigenbewegung und Geschwindigkeitskomponenten
Betrachtet man die Bewegung eines Sternes von Punkt A nach Punkt B mit der Geschwindigkeit $v$, so stellt man fest: Die räumliche Bewegung des Gestirns kann in zwei Komponenten aufgespaltet werden. Die tangentiale Geschwindigkeitskomponente $v_{\rm T}$ bezüglich der Sonne bewirkt dabei eine tangential zur Sonne verlaufende Ortsveränderung des Gestirnes. In der Projektion auf die Himmelskugel wird dies als Winkelverschiebung $\Delta\sigma$ sichtbar. Bezieht man $\Delta\sigma$ auf eine Zeiteinheit, so bezeichnet man dies als Eigenbewegung $\mu$ des Sterns. Als Einheit wird im allgemeinen $''/{\rm a}$ verwendet.
\begin{displaymath}
\mu = \frac{\Delta\sigma}{\Delta t} \, .
\end{displaymath} (1)

Zur Angabe der Eigenbewegung gehört außerdem der Positionswinkel $\vartheta$, der, wie in der Astronomie üblich, von Norden über Osten gezählt wird. Ist die Entfernung $r$ des Gestirns bekannt, so kann aus der Eigenbewegung die Tangentialgeschwindigkeit v$_{\rm T}$ bestimmt werden. Durch Untersuchung des Sternspektrums (Dopplerverschiebung) kann auch die Radialgeschwindigkeit v$_{\rm R}$ ermittelt werden, so daß die Raumgeschwindigkeit v der Sterne bezüglich der Sonne berechnet und die Bewegungsverhältnisse in unserer Galaxie studiert werden können. Ist $\pi ['']$ die Parallaxe des Sterns und r in Parsec gegeben, so gilt $r = 1/\pi $ .
Laut Skizze erhält man für die Radialgeschwindigkeit:
\begin{displaymath}
v_{\rm R} = \frac{\overline{AB}}{\Delta t} = \frac{{\rm d}r}{{\rm d}t} \ ,
\end{displaymath} (2)

die nach Vereinbarung positiv ist, wenn der Stern sich von der Sonne entfernt, und die negativ ist, wenn er sich auf die Sonne zubewegt.
Für die Tangentialgeschwindigkeit findet man:
\begin{displaymath}
v_{\rm T} = \frac{\overline{AD}}{\Delta t} \, .
\end{displaymath} (3)

Da $\Delta\sigma$ klein ist, kann man den Unterschied zwischen Sehne und Bogen vernachlässigen und es gilt:
\begin{displaymath}
\overline{AD} = r \cdot \Delta \sigma \, .
\end{displaymath} (4)

Daraus folgt:
\begin{displaymath}
v_{\rm T} = r \cdot \frac{\Delta \sigma}{\Delta t} = r \cdot \mu
\, .
\end{displaymath} (5)

Setzt man für $\textstyle \parbox{5cm}{ 1 pc = 3,086 $\cdot 10^{13}$\ km \\
1$''$/a = 1,536 $\cdot 10^{-13}$\ rad/s }$,
erhält man folgende Größengleichung für die Tangentialgeschwindigkeit:
\begin{displaymath}
v_{\rm T}[{\rm km/s}] = 4,74 \cdot r \ [{\rm pc}] \cdot \mu \ [''/{\rm a}]
\, .
\end{displaymath} (6)

Die Raumgeschwindigkeit ergibt sich dann durch geometrische Addition der Tangential- und Radialgeschwindigkeit:
\begin{displaymath}
v^2 = v_{\rm T}^2 + v_{\rm R}^2 \, .
\end{displaymath} (7)

Wie in [1] beschrieben ist die Eigenbewegung langsam mit der Zeit veränderlich, da sich durch die Änderung der Entfernung des Sternes auch der Winkel $\Delta\sigma$ ändert, unter dem die Positionsverschiebung durch die tangentiale Geschwindigkeitskomponente erscheint. Nach Abb. 1 ist die Radialgeschwindigkeit
\begin{displaymath}
v_{\rm R} = v \sin \Theta = \frac{{\rm d}r}{{\rm d}t} \, .
\end{displaymath} (8)




Abb.: 2: Zur Änderung der Eigenbewegung
Da man annehmen darf, daß die Raumgeschwindigkeit v eine konstante Größe ist, ergibt sich folgender Ausdruck für die zeitliche Änderung der Eigenbewegung:
\begin{displaymath}
\frac{{\rm d}\mu}{{\rm d}t} = -\frac{v \cdot \cos \Theta}{r...
...t \sin \Theta}{r} \cdot \frac{{\rm d}
\Theta}{{\rm d}t} \, .
\end{displaymath} (9)

Ersetzt man alle Terme durch v$_R$ und $\mu$, erhält man die Gleichung zur Änderung der Eigenbewegung:
\begin{displaymath}
\frac{{\rm d}\mu}{{\rm d}t} = - \frac{2\mu}{r} \ v_{\rm R} \, .
\end{displaymath} (10)

Subtrahiert man von der Raumbewegung der Sterne die solare Bewegung, erhält man die Pekuliarbewegung der Sterne (die nicht mehr auf die Sonne bezogen ist, sondern auf ein lokales Bezugssystem, bei dem der Mittelwert der Geschwindigkeitsvektoren der Sterne in der Sonnenumgebung der Sonnengeschwindigkeit genau entgegengesetzt ist).
Sollen die Positionen von Sternen auf eine andere Epoche umgerechnet werden, so sind auch die Eigenbewegungen der Sterne zu berücksichtigen. Üblich ist es dabei, eine Zerlegung der Eigenbewegung in die Komponenten $\mu_{\alpha}$ und $\mu_{\delta}$, also die Winkelverschiebungen pro Zeiteinheit in Rektaszension und Deklination, zu nutzen. Sie können leicht mit Hilfe folgender Formeln gewonnen werden:
$\displaystyle \mu_{\alpha}$ $\textstyle =$ $\displaystyle \mu \cdot \frac{\sin \vartheta}{\cos \delta}$  
$\displaystyle \mu_{\delta}$ $\textstyle =$ $\displaystyle \mu \cdot \cos \vartheta \, .$ (11)


Table 1: Sterne mit Eigenbewegung $> 5 ''$/a:
Name Katalog- Stern- $\mu$ $\vartheta$ fotograf. Spektral- $v_R$ in $\pi$ in RA DEC
  Nr. bild in in Helligkeit in klasse km/s $''$ (1950) (1950)
      $''$/a $^\circ$ m       h m s $\circ \ '$
Barnard`s Stern GL 699 Oph 10,31 356 11,3 M5 -111 0,5453 17 55 23 $+$ 04 33,3
Kapteyn's Stern GL 191 Pic 8,71 131 10 M0 245,5 0,2583 05 09 41 $-$ 44 59,9
Groombridge 1830 GL 451 UMa 7,05 145 7 G5 -99,1 0,116 11 50 06 $+$ 38 04,7
Lacaille 9352 GL 887 PsA 6,9 79 8,6 M2 9,5 0,2843 23 02 39 $-$ 36 08,5
Cordoba 32416 GL 1 Scl 6,1 112 10 M3 22,9 0,2218 00 02 28 $-$ 37 36,2
61 Cyg A/B GL 820 Cyg 5,22 52 6,2 / 7,2 K5 / K7 -64,8/-64,3 0,2887 21 04 40 $+$ 38 38,0
Ross 619 GL 299 Cnc 5,21 167 14,2 M6 -35 0,148 08 09 12 $+$ 08 59,6

Die Eigenbewegungen, Radialgeschwindigkeiten, Parallaxen und Positionen wurden dem GLIESE-Katalog entnommen. Die restlichen Daten stammen aus BURNHAM's Celestial Handbook [3].

Es gilt: $\mu = \sqrt{\mu_{\alpha}^2 \cdot \cos^2\delta + \mu_{\delta}^2}$, wenn $\mu_{\alpha}$ und $\mu_{\delta}$ in Bogensekunde gegeben sind. Sind die Koordinaten eines Sterns zum Zeitpunkt t$_0$ durch $\alpha_0$ und $\delta_0$ gegeben, so berechnet man sie für den Zeitpunkt t mit:
$\displaystyle \alpha$ $\textstyle =$ $\displaystyle \alpha_0 + (t-t_0) \mu_{\alpha}$  
$\displaystyle \delta$ $\textstyle =$ $\displaystyle \delta_0 + (t-t_0) \mu_{\delta} \, .$ (12)

Um die Eigenbewegung bestimmen zu können, muß die Position des Gestirns zu zwei möglichst weit auseinanderliegenden Zeitpunkten genau bestimmt werden. Dazu kann man drei Möglichkeiten nutzen.
  1. Bestimmung der absoluten Koordinaten, z.B. mit einem Meridiankreis
  2. Position relativ zu Sternen angeben, deren Eigenbewegung als sehr klein angenommen werden kann
  3. Position relativ zu Quasaren oder Galaxien angeben, deren Bewegung vernachlässigbar ist (wegen großer Entfernung)
Alle anderen Effekte, die eine Koordinatenveränderung bewirken, müssen korrigiert werden. Die beiden ermittelten Positionen sind daher auf eine gemeinsame Epoche zu beziehen.

Entdeckt wurde die Eigenbewegung 1718 von E. HALLEY (1656-1742). Er stellte fest, daß die Positionen von Sirius, Arktur und Aldebaran sich deutlich von denen alter Sternkataloge unterschieden (HIPPARCHOS). Arkturs Position hatte sich seit PTOLEMAIOS (um 100-170) Zeit um mehr als $1^{\circ}$ verschoben. In der Folgezeit wurden die Sternpositionen genauer untersucht. 1897 entdeckte KAPTEYN (1851-1922) im Sternbild Pictor einen Stern mit $\mu = 8,7 ''$/a. Die größte bisher bekannte Eigenbewegung besitzt BARNARDs Stern (10,3 $''$/a), der 1916 von E. BARNARD (1857-1923) beim Vergleich zweier Platten von 1894 und 1916 entdeckt wurde. Später konnte E. PICKERING (1846-1919) ihn auch noch auf einer Harvard-Platte von 1888 finden.



Abb.: 3: Die Bewegung von Barnards Stern seit 1940
Mit einer Entfernung von rund sechs Lichtjahren ist er der zweitnächste Stern nach Alpha Centauri. Seine große Eigenbewegung verdankt er seiner geringen Entfernung und seiner hohen Raumgeschwindigkeit. Die Radialgeschwindigkeit beträgt etwa -111 km/s, d.h. BARNARDs Stern bewegt sich auf uns zu. In 8000 Jahren wird er dann weniger als vier Lichtjahre entfernt sein und eine Eigenbewegung von 25,6 $''$/a besitzen!
P. VAN DE KAMP veröffentlichte die Entdeckung einer periodischen Veränderung der Eigenbewegung von BARNARDs Stern [2]. Dies zeigt das Vorhandensein eines Begleiters an, der eine ähnliche Masse wie Jupiter besitzt.
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Juergen Weiprecht 2002-10-29